Donnerstag, Oktober 19, 2006

Polonäse Blank-enese

Point Blank – Over and Out (Point Blank)
USA 1997
Regie: Matt Earl Beesley, Drehbuch: Jim Bannon, Chuck Konzelmann, Daniel Raskov, Cary Solomon, Kamera: Keith L. Smith, Music: Stephen Edwards, Schnitt: Edward R. Abroms
Darsteller: Mickey Rourke (Rudy Ray), Kevin Gage (Joe Ray), Paul Ben-Victor (Howard), Danny Trejo (Wallace), Werner Schreyer (Billy), Michael Wright (Sonny), Frederic Forrest (Mac Bradford), James Gammon (Dad)

Synopsis: Wegen Mordes an einem Drogendealer sitzt Joe in der Todeszelle. Doch er ist nicht bereit, sich so einfach rösten zu lassen und so plant er seinen Ausbruch: Mehrere bewaffnete Kollegen hauen ihn und ein paar andere Gefangene bei einem Transport raus, der kriminelle Geschäftsmann und Mithäftling Howard verspricht einen Helikopter zu beschaffen, der sie an einem Einkaufszentrum abholen soll. Während sich dort in der Folge ein blutiges Geiseldrama abspielt, erfährt Joes Bruder und Ex-Texas-Ranger Rudy vom Ausbruch seines Bruders. Und weil er ahnt, dass das Scharmützel in der Shopping Mall einen bösen Ausgang nehmen wird, beschließt er einzugreifen ...

FUNKHUNDD: POINT BLANK – OVER AND OUT ist ein relativ typischer Vertreter des in den Neunziger-Jahren auf den Videomarkt verdrängten, dort aber schwer boomenden B-Action-Films. Als solcher weist er einige typische Merkmale auf: eine illustre, aber schon etwas über den Zenit hinausgewachsene Besetzung, äußerst happige Gewaltszenen, ein aufs bloße Handlungsgerüst reduzierter Plot und eine bestenfalls solide Inszenierung.

DER AUSSENSEITER: Matt Earl Beesley, Second Unit Director von Filmen wie IM JAHR DES DRACHEN oder BRAVEHEART, hat hier den einzigen Spielfilm seiner Karriere inszeniert und wollte alles auf einmal. Das Resultat ist zwiespältig. Was soll man sagen zu einem STIRB LANGSAM-Klon, der so brutal wie möglich sowie rasant und spannend inszeniert sein möchte, gleichzeitig aber auch die emotionalen Aspekte seiner Figuren vertiefen will? Ein bisschen Kitsch und Melodram, garniert mit Wildwest- und wehmütiger Road-Movie-Stimmung sowie gängigen Mustern aller Action- und Kriminalfilme der letzten 20 Jahre. Kurzum: Das kann nicht gut gehen.

FH: Das mit Beesley wusste ich gar nicht. Schon erstaunlich, was für Kaliber diese ganzen vermeintlich Namenlosen in ihrem Lebenslauf haben. Tja, aber einen ganzen Film allein zu verantworten, scheint ja dann für manche doch ein schwieriges Unterfangen zu sein, wie man m. E. auch hier sieht. Was an POINT BLANK – OVER AND OUT sofort auffällt, ist die von vielen Ellipsen geprägte Erzählstruktur, die einen beinahe völlig leeren Film zur Folge hat.

A: Oder um’s mal anders zu formulieren: Der Film rockt wie Sau. Eine derartig menschenverachtende erst halbe Stunde habe ich selten gesehen und der Film versucht gleich alles an Härte eines No-Compromise-Actionfilms vorwegzunehmen, was man sonst auf volle Länge walzen würde.

FH: Die Gewalt ist so was wie der Thymian im Gyros dieses Films. In den ersten zwanzig Minuten wähnt man sich dem Rekordversuch für die filmische Abbildung der meisten explodierenden Brustkörbe in kürzester Zeit beizuwohnen. Später verlagert sich die Einschussquote etwas zugunsten von sauberen aber nicht minder effektiven Kopfschüssen, aber das kann den Eindruck, hier einem ziemlich zupackenden Film beizuwohnen, nur bedingt schmälern.

A: Allerdings! Als die Belagerungssituation durch Polizei und F.B.I. entsteht, werden die einzelnen Schicksale der Schwerverbrecher genauer beleuchtet und hier wird der Film plötzlich verlangsamt und findet nie wieder zum Anfangstempo zurück. Das ist eigentlich auch nicht so schlimm, denn über 90 Minuten hätte man dass eh kaum ausgehalten. Dass die Gewalt, wenn auch quantitativ nicht mehr so geballt wie zu Beginn, weiterhin zwischen die emotional vertiefenden Szenen gepackt wird, lässt den Film partiell nur noch „durchgedrehter“ erscheinen.

FH: Aber in seinen melodramatischen Szenen kippt der Film dann doch oft ins unfreiwillig Komische. Stereotype Selbsterklärungen der Protagonisten treten an die Stelle echter Charakterisierungen: Da gibt es den feinfühligen, jungen Billy, der durch einen dummen Fehler in der Todeszelle gelandet ist und nun mit brutalen Schwerverbrechern in einem Atemzug genannt wird, sowie den Schwarzen Sonny, der seine geliebte Ehefrau mit einem anderen Mann erwischt und diesen daraufhin bestialisch zur Strecke gebracht hat, eigentlich aber ein „vernünftiger“ Mensch ist. Und auch Joe, Rudys Bruder, war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.

A: Ganz heldenhaft hat er einen Drogenbaron getötet und muss für diese gerechte Tat in einem ungerechten System auf den elektrischen Stuhl.

FH: Die wirklich üblen und verachtenswerten Schurken sind da schon anders drauf: Howard eine geldgierige, versnobbte Schwuchtel, die die ganze Geiselaktion hoch amüsant zu finden scheint und Danny Trejo als Wallace, ein durchgeknallter, gewissenloser Psycho.


A: Danny Trejo ist auch der Einzige, der es dann an optischer Abscheulichkeit mit Rourke aufnehmen kann. Mit seinem Wallace dürfte er wohl das Paradestück seiner bisher schon nicht unter einem Mangel an Bösartigkeit leidenden Figuren abgeben. Vor allem hier könnte der Film parodistische Züge entwickeln, bietet aber nicht einmal eine ironische Brechung an.

FH: Stimmt! Die parodistischen Züge wollen einem nicht als solche erscheinen, weil Trejo mit seiner einschlägigen kriminellen Vergangenheit selbst dann noch echt rüberkommt, wenn andere schon jenseits des Overactings delirieren. Als Soziopath Wallace darf er den Hahn jedenfalls weit aufreißen und eine Mischung aus seiner Rolle in CON AIR (= Massenvergewaltiger und Frauenversteher) und Tony Montana aus SCARFACE zum Besten geben. Was sich in dem weiß gekachelten Raum abspielt, in den er sich mit einer willigen Geiseldame und einem Paket Koks zurückzieht, das seine Kumpels ihm zur Beruhigung (!) zugesteckt haben, nachdem er zwei Geiseln kurz entschlossen umgelegt hat, wird seinesgleichen noch lange suchen müssen. Sehr abseitig!

A: Mickey Rourke wirkt noch beängstigender als in SIN CITY, zumal man hier weiß, dass keinerlei Make-Up-Effekte sein Gesicht verzieren, sondern der Mann wirklich so aussieht. Im Ganzen wirkt er so, als habe er ein Jahrzehnt verschlafen und versuche nun, immerhin im Jahr 1997, dem 80er Trend der hard bodies nachzulaufen.

FH: Mir macht der Mann in seiner derzeitigen Inkarnation einfach nur Angst. Er sieht aus wie etwas, das ein mad scientist in seinem unterirdischen Labor gezüchtet hat. Dass dieser Mann damals als James Dean der Achtziger und sexiest man alive bezeichnet wurde, ist kaum noch nachvollziehbar, wenn man sich den grobschlächtigen Muskelberg mit den schlecht verheilten Operationsnarben und geschwollenen Fingerknöcheln heute anschaut. Für die Rolle des Marv in SIN CITY war er wie gemacht, du sagst es, auch als Frankensteins Monster mag man ihn sich vorstellen oder als texanischen Trucker, aber als ehemaligen Texas Ranger? Auch wenn es nicht unrealistisch scheint, dass Mickey Rourke mit einem Haufen Bösewichtern kurzen Prozess macht, die Art und Weise wie es hier geschieht, samt filigraner Waffenbeherrschung und fancy Kampfsport-Moves, nimmt man ihm einfach nicht ab.

A: Ja, den Texas Ranger kann man ihm beim besten Willen nicht abnehmen. Er sieht auch eher so aus, als wäre er in diese scheußliche, speckige Lederweste die er später trägt hineingewachsen, hockt da, anabolikaverseucht, mit seinem Big Poppy auf der Farm und sinniert über das Schicksal seines Bruders Joe. Die alte Reaganomics-Denke lässt sich dann auch herrlich an Daddys Aussage festmachen, der meint, dass Joe sich lieber was in der dritten Welt zum rumballern hätte suchen sollen. So wie Rudy, „auf der richtigen Seite“.

FH: Das, Mickey Rourke und die schon angesprochene Brutalität sind aber auch die einzigen Relikte der Achtziger in diesem Film, den sonst eher als plebejischen Vertreter des postmodernen Actionfilms bezeichnen muss.

A: Was mich am Film schon immer fasziniert hat, ist diese absolute Zweitklassigkeit auf sämtlichen Ebenen. Hier wird auch nicht ein einziger originärer Einfall formuliert, alles hat man so schon zig Mal – zumeist besser – gesehen und Beesley scheint sich darum einen Dreck zu scheren. Jede einzelne Szene scheint aus irgendeinem anderen Film entlehnt, ist nur noch das Chiffre einer allseits bekannten Kinosemiotik. Auf die Spitze formuliert könnte man sagen, dass POINT BLANK – OVER AND OUT die Vollendung einer durch die Kulturindustrie geschaffenen postmodernen Selbstreferenzialität ist, die abgebrüht in Zweit- und Drittverwertungen rumstochert, sich absolut darauf verlassen könnend, dass jeder Depp die Ellipsen und nichtvorhandenen Figurenskizzierungen schon wird ausgleichen können.

FH: Völlig richtig. Beesley setzt in POINT BLANK – OVER AND OUT ein großes Vorwissen des Zuschauers über die typischen Bestandteile dieser Art Film voraus. Mickey Rourkes Charakter Rudy, immerhin die Hauptfigur, wird zu Beginn nur kurz skizziert. Es reicht aus, in kurzen Dialogsätzen oder bereits geprägten Bildern (die Ranch, die Schaufel, der bärtige Daddy auf der Veranda) einen Background vorzutäuschen, um klar zu machen, dass er der Held des kommenden Films sein wird. Diese Erzählung mit Leerstellen setzt sich weiter fort: So bahnt sich eine deutlich von STIRB LANGSAM inspirierte Befreiungsaktion an, deren Umsetzung jedoch dadurch unterwandert wird, dass die Dimensionen des Einkaufszentrums für den Zuschauer völlig unüberschaubar bleiben. Und wenn Rudy am Ende seinen sterbenden Bruder in den Armen hält, so funktioniert diese Szene wegen ihrer Ikonizität, obwohl die Beziehung zwischen den beiden den ganzen Film über nur Behauptung bleibt. Aber Beesley nimmt diese Erzählhaltung quasi vorbewusst ein: Er betreibt kein cleveres Spiel mit den Konventionen, der Film ist nur an und für sich. Er hat sowas wie einen unreflektiert selbstreflexiven Film gedreht.

A: Hier entstehen interessante Gegenüberstellungen, die so wohl nicht immer intendiert gewesen sein mögen. Der Film sollte ursprünglich mehr Handlung haben und anders geschnitten werden. Vermutlich hat man hier noch versucht zu retten, was zu retten ist. So stehen viele Zitate für sich allein, wie z. B. die Sterbeszene von Warren Oates aus THE WILD BUNCH – SIE KANNTEN KEIN GESETZ, die vielen Anspielungen auf John Woo, sowie die hochemotionale Erschießung von Joe, die teilweise einstellungsgleich zu Renos Schlussszene in Bessons LEON – DER PROFI ist. Überhaupt lässt sich an POINT BLANK – OVER AND OUT gut erkennen, inwieweit John Woo den amerikanischen Actionfilm der 1990er Jahre beeinflusst hatte. Die Kontrastierungen von brutaler Gewalt und rührselig-melancholischen Szenen, die Konfrontation der Brüder – diesmal auch im biologischen Sinne –, die auf unterschiedlichen Seiten stehen und sich nicht töten wollen. All das versucht Beesley unterzubringen, unterstützt durch ein Drehbuch, an dem immerhin vier Autoren gewerkelt haben.

FH: Ja, Beesley versucht sich an einem emotionalen Actioner, im Unterschied zu den ganzen thesenhaften Actionfilmen der Achtziger. Aber er scheitert eben an der Holzschnittartigkeit des Ganzen. Klar, auch John Woo hat mit Typen und Klischees gearbeitet, aber diese waren eben innerhalb des Films immer glaubwürdig. Hier hat man das Gefühl, hinter dem Geschehen immer noch den Matrix-Code laufen zu sehen, nach dem Figuren, Handlungsverlauf und Dramaturgie förmlich „errechnet“ wurden. Alles ist völlig leer, deshalb können dann selbst solche dekonstruktivistischen Verfremdungseffekte wie etwa der absurde Einfall, in Sonnys Sterbeszene „Silent night, holy night“ vom Soundtrack tönen zu lassen, keine richtige Wirkung entfalten.

A: Man kann wohl sagen, dass mit so einem Film selbst die Actiongülle in den späten 90ern angekommen ist. Testosteronstrotzende Anabolikapakete dürfen sich, nachdem sie ihren Tötungsrausch beendet haben, heulend in den Armen liegen. Der Film hat diverse Merkmale der 80er und macht eine Menge richtig, aber auch wieder eine Menge falsch. Ein Grund hierfür ist wohl darin zu suchen, dass er alles richtig machen wollte. Trotz allem bleibt er ein überragendes Beispiel für eine Filmgattung, die es heute leider nicht mehr gibt: den handgemachten B-Actionfilm.

Sonntag, Oktober 15, 2006

Respect the Rock!

Nach unserem kleinen Exkurs widmen wir uns wieder unserem eigentlichen Thema. Dabei werden wir aber nicht einfach Querbeet vorgehen, sondern uns einem klassischen Eighties-Action-Subgenre widmen, dessen Wurzeln sich bis ins Juvenile-Delinquent-Kino der Fünfziger zurückverfolgen lassen: dem Actionfilm mit Rockerbezug. In den nächsten Wochen wird bei uns also das Dosenbier ausgepackt, der Lederwams entmottet, der Vollbart stehengelassen, lauthals "Born to be wild" gegrölt und sich generell asozial verhalten. Unterstützung erhalten wir dabei von solch illustren Gestalten wie Gary Busey, Yaphet Kotto, Brian Bosworth, Lance Henriksen, William Forsythe, Richard Lynch, Charlie Sheen und Michael Madsen. Hier sind die Kandidaten (die Bildchen sind etwas kleiner ausgefallen, verhalten sich aber absolut antiproportional zum Inhalt - versprochen!):


Donnerstag, Oktober 05, 2006

Am Ende des Weges

Der Greifer (L’Alpagueur)
Frankreich 1976
Regie: Philippe Labro, Drehbuch: Philippe Labro, Jacques Lanzmann, Kamera: Jean Penzer, Musik: Michel Colombier, Schnitt: Jean Ravel,
Darsteller: Jean-Paul Belmondo (Der Greifer), Bruno Cremer (Die Bestie), Jean Negroni (Spitzer), Patrick Fierry (Costa Valdes), Jean Pierre Jorris (Salicetti)

Synopsis: „Der Greifer“ ist ein ehemaliger Großwildjäger, der sich nun im geheimen Auftrag des Justizministeriums der Jagd auf das böseste, widerlichste und feigste Tier verschrieben hat: den Menschen. Sein neuester Auftrag ist die Ergreifung der „Bestie“, eines kaltblütigen Verbrechers, der junge Männer für seine brutalen Raubzüge einspannt, sie die Drecksarbeit machen lässt, um sie danach zu „entsorgen“. Doch einer seiner Handlanger kann entkommen und der Greifer wird sogleich auf ihn angesetzt, um die Spur der Bestie aufzunehmen ...

FUNKHUNDD: DER GREIFER ist ein typischer harter, zynischer und desillusionierter französischer Krimi aus den Siebzigern, mit einem gewohnt souverän aufspielenden Bebel. Von den Menschen hat der Greifer längst die Schnauze voll, als Kopfgeldjäger verdingt er sich auch nicht aus moralischem Antrieb, sondern nur, um möglichst schnell das nötige Kleingeld für die einsame Insel zusammen zu bekommen, auf die er sich zurückziehen will.

DER AUSSENSEITER: Regisseur Philippe Labro arbeitete bereits 1972 mit Belmondo für den hervorragenden Wirtschaftskrimi DER ERBE zusammen und in ihm wurde schon die Stoßrichtung erkennbar, die 1976 ins Sujet des Actionfilmes verlagert wurde. Die existenzialistische Gesinnung, die Labro in beide Drehbücher packte, sorgt dafür, dass die Filme einen ganz eigenen und bei Rezeption nicht so leicht zu erfassenden Eindruck hinterlassen. Die Stimmung ist negativ eingefärbt, die Welt kein angenehmer Ort.

FH: Ja, aber das übersieht man wie du richtig sagst vor allem in der deutschen Fassung leicht, weil Brandt die melancholische Stimmung mit seinen Blödeleien zupflastert. Dabei erzählt DER GREIFER keine heldenhafte Mär über die Entschlossen- und Rechtschaffenheit des einsamen Wolfs. Der Aphorismus Oscar Wildes’, mit dem der Film schließt und der davon kündet, dass alles Geld der Welt einem nicht die Vergangenheit zurückbringen kann, lässt sich für den Betrachter der deutschen Fassung nämlich nur schwer auf den gesehenen Film anwenden, wirkt doch Belmondo als Greifer nicht gerade unzufrieden mit sich und seinem Einzelgängerdasein. Im Gegenteil, er scheint sogar einigen Spaß an der Kriminellenhatz zu haben. Betrachtet man aber die Bilder genauer und lauscht dem Score, gewinnt man einen völlig anderen Eindruck von seiner Figur und dem ganzen Film.

A: Der Greifer wirkt nicht unzufrieden, da er dem Sisyphismus verhaftet ist. Er erledigt die Arbeit um ihrer selbst wegen und ist zufrieden mit dem, was er tut, auch wenn es am Ende sinnlos sein sollte. Er ist sich seiner Funktion nicht voll bewusst und wird deshalb genauso wenig wie Sisyphus jemals den Stein vollständig den Berg hoch rollen wird seinen Traum von der Insel erfüllen können.

FH: Aber Camus postuliert ja in dem von dir herangezogenen „Mythos des Sisyphos“, dass man, nachdem man erkannt hat, dass die Welt absurd ist, nicht versuchen darf, gegen dieses Absurde anzukämpfen, da man sonst die Prämissen der eigenen Handlung zunichte mache. Sisyphos darf also nicht dem Glauben verfallen, er könne irgendwann erfolgreich sein, bei seinem Versuch, den Stein den Berg hochzurollen, denn dieser Erfolg würde ja seine Erkenntnis, dass die Welt absurd ist, zerstören. Überträgt man das auf den Film, dann kommt man zu dem Schluss, dass sich der Greifer noch in einer Art vorbewusstem Stadium befindet: Zwar hat er das Absurde erkannt – der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern das böseste und schlechteste Wesen auf der Erde –, aber er glaubt noch daran, dem Absurden auf eine Insel entfliehen zu können, und dieser Glaube bestimmt seine Handlungen.

A: Völlig richtig! Der Greifer scheint erfüllt von der Aufgabe um ihrer selbst willen, aber erhält sich unwissentlich eine Illusion. Wie in vielen französischen Krimis haben wir in DER GREIFER das Dualitätsprinzip. Gut und Böse werden nicht einfach gegenüber gestellt, sondern als Bestandteil ein- und derselben Sache präsentiert. Ein Thema, welches John Woo, der ein großer Verehrer Melvilles ist, gern in seine Filme eingebaut hat, so in THE KILLER oder in IM KÖRPER DES FEINDES. Jedoch geht es hier weniger darum, dass der Greifer und die Bestie eine Figur sind, die sich in ihre jeweiligen Gegenstücke aufsplittet, sondern, dass es sich um zwei Menschen handelt, die auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes und der Gunst des Zuschauers stehen, aber doch jeder einen großen Teil des anderen in sich bergen. Ihre Ähnlichkeit ist sogar so eklatant, dass man von einer Seelenverwandtschaft sprechen kann, die sie jedoch nicht in eine Freundschaft überführen können, da sie ihre Persönlichkeitsmasken durch die Gesellschaft definieren.

FH: Dieser Aspekt geht in dem Film aber leider etwas unter, da die Figur der Bestie über weite Strecken im Hintergrund bleibt. Was aber deutlich wird, ist, dass beide eine Geheimidentität haben, um sich von der Gesellschaft abzuschotten. Der Greifer verweigert sich in der ersten Einstellung regelrecht der Kamera, er dreht sich weg, während sie versucht, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen und die Bestie ist, wenn er nicht unter diesem Namen unterwegs ist, ein kultivierter und homosexuell verzärtelter Flugbegleiter. Seine Südseeinsel ist ein abbruchreifes Haus im Nichts, in dessen Keller er die erbeuteten Geschmeide versteckt – ein Setting, das sich mit den richtigen Filtern versehen in jedem Jeunet-Film gut gemacht hätte.

A: Anders als Woo, der in THE KILLER eine Chance auf Freundschaft zwischen dem die Seelenverwandtschaft spürenden Polizisten und dem Auftragsmörder in den Raum stellt, werden der Greifer und die Bestie sich nur als Feinde gegenüber stehen können. Es kann zwischen ihnen nur auf eine Konfrontation hinauslaufen. Der eine wird von der Gesellschaft benutzt – in seinem Fall die Regierung –, um illegale Aktionen durchzuführen, bei denen der Staat seine eigenen Gesetze umgeht, da er die in seinen Augen gesellschaftsschädigenden Elemente nicht auf juristischem Wege belangen kann. Er steht nicht in der Öffentlichkeit und von seiner Existenz darf auch nichts bekannt werden. Der andere wird von der Gesellschaft, den Medien und dem Staat instrumentalisiert, um ein Feindbild zu kreieren. „Der gefährlichste Verbrecher Frankreichs“ posaunt der ermittelnde Kommissar dann auch und die Skrupellosigkeit, mit der die Bestie ihre Taten begeht, scheint daran nur wenig Zweifel zu lassen.

FH: Wobei die Sensationslust der Medien in DER GREIFER schon etwas befremdet: Natürlich ist die Bestie ein gewissenloser Killer, aber seine Verbrechen ziehen doch recht singuläre Folgen nach sich.

A: Da spiegelt sich die Angst des Staates vor dem Machtverlust wider. Bevor Sympathien mit einem Gesetzesbrecher aufkommen, muss er der Gesellschaft als echte Gefahr propagiert werden, damit der „gemeine Mann auf der Straße“ nicht so viel über ein durch korrupte Politiker korrumpiertes System nachdenkt. Der Staat braucht seine künstlichen Feindbilder.

FH: Was auffällt, vor allem auf der Seite der Rolle des sonst auf Filous und Lebemänner abonnierten Belmondo, ist seine Einsamkeit im Film. Beide Figuren sind absolute Einzelgänger: Der Greifer hat keine Geliebte, keine Freunde – das ändert sich im Verlauf des Films. Und auch sein Sieg am Ende erscheint alles andere als triumphal. Zu viele Menschen mussten sterben und mit der Bestie ist auch nur einer von vielen seinem „verdienten“ Ende zugeführt worden.

A: Beide sind Produkte ihrer Umwelt. Der Greifer hat keinen Bezug zu Frauen. Als ein weiblicher Drogenkurier als schwangere Frau getarnt unbemerkt und ruhigen Schrittes an der Polizeirazzia zu Beginn vorbeigeht, stürzt sich der Greifer auf sie, kann sich nicht wirklich sicher sein, ob die Frau zu den Gangstern gehört, aber tritt ihr sofort mehrmals mit dem Knie in den Unterleib, bis der falsche Bauch aufreißt und die Drogenpäckchen herausfallen. Die Welt wie Labro sie in DER GREIFER schildert ist schmutzig und ungastlich. Beide Figuren – deren volle Namen nie erwähnt werden, womit hervorgehoben wird, wie sehr sie durch ihre Benennungen der Gesellschaft definiert sind – lieben die Jagd, das Raubtierhafte und vor allem: das Geld. Sie häufen Reichtümer an, der Greifer durch seine Aufträge und die gute Bezahlung, die Bestie durch ihre Überfälle, um zu einem Punkt zu gelangen, der sie aus diesem Leben wegführen soll. Obwohl sie aggressiv handeln, sind sie gleichzeitig Opfer und das kann keinem von ihnen gefallen. Der Greifer funktioniert als Mordwerkzeug und träumt den klischeehaften Traum von der einsamen Insel, die im Film auch kurz als einzig heller Moment visualisiert wird. Die Bestie muss als Steward in einer Frauenwelt leben und versucht, ihre Homosexualität hinter einer dezenten Noblesse zu tarnen.

FH: Ja, die Welt kommt nicht gut weg in Labros Film. Jugendliche müssen sich mit kleinen Delikten über Wasser halten, um in den schmutzigrauen, verrotteten Stadtlandschaften nicht unterzugehen. Polizisten und Politiker sind gleichermaßen korrupt und vulgär und der Staat, der seine Bürger schützen soll, hetzt zwei Killer aufeinander, um sich ein unliebsames Problem vom Hals zu schaffen.

A: Wenn wir uns den Namen der beiden Figuren zuwenden, lassen sich ihre „wahren“ Identitäten noch besser erkennen. L’Alpagueur, der Greifer, ist ein Neologismus, der sich aus dem Verb alpaguer ableitet, was „festnehmen“ bedeutet. Diese Begrifflichkeit erfährt eine Spezifikation durch Doumecq den Kriminalkommissar, sowie durch Spitzer, den Boss des Verbrechersyndikates, dem gleich zu Beginn durch den Greifer eine wichtige Heroinladung durch die Finger geht. Der Greifer lauert seiner Beute geschickt auf und lässt die Falle jedes Mal gekonnt zuschnappen. Seine Opfer haben keine Chance. L’Epervier, die Bestie, ist der Sperber, der Greifvogel, der sich seine Beute in Form junger Straftäter schnappt, sie gefügig macht und anschließend als Komplizen missbraucht. Danach entledigt er sich ihrer und zieht wieder allein von dannen. Der Begriff épervier kann gleichermaßen für Fangnetz stehen. Beide, Pro- und Antagonist, sind die typischen Einzelgänger, die, ganz dem Existenzialismus entsprechend, ihre Sisyphus-Arbeit durchführen und nie ein Ende kennen werden.

FH: Der Film nimmt sich passend zu dieser existenzialistisch angehauchten Philosophie auch eine ganze Ecke ruhiger aus als etwa ANGST ÜBER DER STADT oder spätere Belmondo-Klopper á la DER AUSSENSEITER oder DER PROFI. Die spektakulären Stunts, für die Belmondo ja berühmt war, fehlen hier weitestgehend. Dafür dynamisiert Regisseur Labro die Erzählung, indem er sie in viele kleine Episoden zersplittert. Das sorgt zwar wie eingangs erwähnt dafür, dass die Geschichte um die Bestie über weite Strecken des Films in den Hintergrund tritt, andererseits entspricht diese Erzählhaltung aber sehr der Weltanschauung der beiden Gegner: Nichts ist von Belang, die Ereignisse fliegen vorüber, sind nur Zwischenstationen auf dem Weg zum Ziel. Doch dass dieses erreicht wird, daran lässt Labro im Verlauf des Films mehr als berechtigte Zweifel aufkommen: Der Greifer sagt irgendwann sinngemäß, dass er den Dschungel besser doch nie verlassen hätte, und die Bestie scheint angesichts der Reichtümer, die sie schon gehortet hat, längst ein Gefangener seines Lebensentwurfs zu sein. Als Steward hat er jederzeit die Möglichkeit zu fliehen, doch er kehrt immer wieder in sein schäbiges Rattenloch im Niemandsland zurück.

A: Ein weiterer Verknüpfungspunkt zwischen den beiden lässt sich durch den jungen, gutaussehenden Costa Valdes finden. In einer Rückblende erfahren wir, dass die Bestie ihm früher schon einmal begegnet war und er ihr damals gerade noch aus dem Fangnetz entkommen konnte. Da wollte die Bestie ihn nur als sexuelle Abwechslung, später wird sie ihn als Komplizen für einen Überfall anwerben, ohne dass die Beiden sich erkennen. Doch bei Valdes wird die Erinnerung einsetzen, während er für „den gefährlichsten Verbrecher Frankreichs“ nur ein Gesicht von vielen ist. Die Zuneigung, die der Greifer für Costa Valdes empfindet, ist hingegen eher latent homosexuell und erinnert an die adoleszenten Neckereien, die ältere Jungen oder Ranghöhere in hierarchisierten Vereinigungen gerne an jüngeren Mitgliedern ausüben. Er haut Valdes in die Magengrube, um ihn herzhaft zu begrüßen, er verzichtet darauf, bei der Undercoveraktion von seinem verbündeten Kommissar aus dem Gefängnis geholt zu werden und bricht lieber aus, um Valdes mitnehmen zu können, und als die Weinbauern Valdes „in der Mache haben“ haut er ihn abermals raus. Der Greifer begibt sich immer wieder in gefährliche Situationen, die zumeist durch das unüberlegte Verhalten Valdes’ ausgelöst werden, und rettet den Jungen, obwohl er ohne ihn wesentlich mobiler wäre.

FH: Und die Ermordung Valdes’ durch die Bestie lässt dann so etwas wie Emotionen im Greifer aufkeimen. So kann man den Kampf der beiden Gegner auch als einen Kampf um den Jungen interpretieren: Der Greifer hat bekommen, was die Bestie nicht haben konnte, weshalb dieser nichts anderes übrig bleibt als es auch dem Greifer wegzunehmen. Tatsächlich ist es der Tod des Jungen, der am Ende so etwas wie eine Art Läuterung oder einen Erkenntnisgewinn beim Greifer bewirkt: Sein Blick am Ende scheint in Verbindung mit dem Wilde-Zitat zu sagen, dass er den Irrglauben, auf dem sein Lebenskonzept beruht, als solchen erkannt hat. In diesem Moment begreift er, dass er seine Insel nie erreichen wird und dazu verdammt ist, einsam zu bleiben. Es ist – und das bedeutet wohl auch das Wilde-Zitat – ihm unmöglich, diese Erkenntnis rückgängig zu machen. Ein unglaublich tragisches Ende.

A: Das Zitat Oscar Wildes macht für den Zuschauer noch einmal deutlich, dass der Greifer ein Verlorener ist. Man hat den von Dir erwähnten Erkenntnisschritt mit der Figur zusammen vollzogen. Während er mit steinernem Gesicht an der Kamera vorbei sieht, nachdem er aus dem Kampf im Flugzeug als Sieger hervorgeht, reden die Angestellten eine Etage tiefer wild durcheinander und nur in der Originalfassung ist zu hören wie jemand sagt: „Wer ist dieser Mann? Wir wissen überhaupt nicht wer dieser Mann ist.“

FH: Da fällt einem dann fast zwangsläufig „Der Fremde“ von Camus ein. Aber man könnte diese Stimmen im Einklang mit den Ereignissen auch als weiteres Zeichen einer Bewusst-Werdung des Greifers interpretieren. Er ist ein Phantom, völlig allein auf der Welt ...